16 Minuten eines Freundschaftsspiels hat die deutsche Nationalmannschaft gegen die Franzosen über die Runden gebracht, als mit einer Explosion in unmittelbarer Nähe des Stadions der Veitstanz beginnt…
Auslöser soll die Entscheidung der französischen Regierung gewesen sein, sich am Kampf gegen die ISIS zu beteiligen. Nicht wirklich glaubhaft, wenn man den ziemlich perfekt geplanten Ablauf dieser Horrornacht betrachtet. Solche Planungen sind nach Expertenmeinung aufwendig und brauchen Zeit. Das war keine kurzfristige anberaumte Aktion.
Zwei Selbstmordattentäter versuchen ins Fußballstadion einzudringen und scheitern an den Türen. Kurze Zeit später sprengen sie sich vor dem Stadion in die Luft.
Vier andere unmaskierte junge Männer stürmen weiter entfernt in ein Rock-Konzert. Bis an die Zähne bewaffnet nehmen sie die Besucher als Geiseln und richten im Laufe der Nacht ein Blutbad an: über 100 Tote pflastern den Weg der fanatischen Selbstmordattentäter in ihr gelobtes Himmelreich. Welch ein Wahnsinn…
Weitere Terroristen fahren ins Zentrum um die Pariser Markthallen und schießen wahllos in die Menge. Menschen in Cafes, fröhliche Menschengruppen vor und in den Bars werden ihre ahnungslosen Opfer.
120 bis 150 Tote an diesem Abend.
200 Verletzte. Gut 100 kämpfen 24 Stunden später noch um ihr Leben. Um ein Leben, in dem schlagartig nichts mehr wie vorher ist.
Der islamistische Terror ist damit endgültig in Europa angekommen. Alles andere war Vorgeplänkel, jetzt wird es ernst.
In den sozialen Medien herrscht Entsetzen und Trauer. Die Rechten fühlen sich dagegen bestätigt: Sie haben es ja immer gewußt, jetzt wird es also allerhöchste Zeit die Grenzen dicht zu machen. Pegida wird am Montag Rekordzahlen schreiben.
Nebenan, in den Augen „meiner“ syrischen Flüchtlinge sehe ich blankes Entsetzen. Sie möchten sich am liebsten verkriechen. Der Terror, dem sie jüngst entkommen sind, klopft an die Tür. Was passiert nun, wo sollen sie noch hin?
Acht für sie ziemlich glückliche, sorgenfrei Wochen nach ihrer Flucht liegen hinter ihnen. Inzwischen hatten sie Hoffnung auf einen Neuanfang. Sie mögen Deutschland. Sie bewundern dieses kraftvolle, ordentliche Land, in dem alle gleiche Rechte haben, gleiche Chancen. Das so stolz ist, die Schatten seiner dunklen Vergangenheit bewältigt zu haben, und vom düstersten zum beliebtesten Land der Welt aufgestiegen ist.
Sie haben großes Vertrauen zu diesem Deutschland, aber nun steht eine Frage in ihren Augen: ‚Ihr habt uns gesagt, dass ihr stolz seid auf euer Grundgesetzt, auf Toleranz und Werte. Waren das Lippenbekenntnisse – oder seid ihr auch bereit das zu verteidigen? Was werdet ihr nun tun?‘
Was wird Deutschland tun?
Deutschland ist derzeit das führende Land in Europa. Trotzdem tanzt niemand nach seiner Pfeife – und das ist gut so. Die Stärke Europas sind die individuellen und selbstbewußten Länder und ihre Verpflichtungen, sich gegenseitig zu stützen.
Ohne Europa wäre Deutschland deutlich schwächer, ohne Deutschland ist Europa nichts…
Was wird Europa tun??
Uelzen am Montagmittag – ziemlich still in den Straßen, kurz vor zwölf. Und es gab kaum jemanden in meiner Nähe, der um zwölf hätte mit mir schweigen können. Die Lautsprecher auf dem Schulhof hatten die Schweigeminute offenbar angekündigt – ich war zu weit weg, konnte nicht genau verstehen, was sie sagte, die Stimme aus dem Lautsprecher. Kinder kamen später raus, waren lebhaft im Gespräch. Streitschlichtung gehört ja heutzutage auf den Stundenplan, denke ich …
An der Kasse in der Drogerie ertaste ich vorsichtig das Thema des Tages. Die Kundin, die mit mir da steht hat es eilig oder spricht nicht gern drüber. Die Kassiererin sagt: „Macht schon unsicher, oder?“ Sie fragt sich, ob sie unsicher sein darf, denke ich. Oder fragt sie mich, ob ich unsicher bin? „Ich finde das beängstigend“, sage ich. Sie atmet auf – man darf das sagen! „Und wir können einfach nur so weitermachen, müssen sogar, sonst haben die ja gewonnen“ – sie sagt das sicher, aber vorsichtig. Ist Angst eigentlich die Mutter oder die Tochter der Vorsicht?
Beim Augenarzt hole ich eine Bescheinigung. Das Wartezimmer still wie immer, vorne kurzes praktisches Gespräch ohne Umschweife. Als ob nichts passiert wäre. Die Gewalt passt nicht so gut in den Alltag.
Nachmittags frage ich meinen Sohn, wie´s in der Schule war, war der Anschlag Thema? Er nur:„Eij, geht auf´n Sack. Den ganzen Tag nichts als das Gelaber drüber! Ich muss Englisch lernen, schreibe morgen die Arbeit.“ Gut, denk ich – er hat keine Angst. Wenigstens das. „Wenn du keinen Bock hast zu labern, dann hör einfach gut zu“, schlage ich vor. Er: „Hhm …“. Ich entnehme dem, dass er einverstanden ist.
Meine Freunde rufen nicht an, an diesem Montag. Ich will reden über das was passiert ist. Wo sind sie? Machen sie einfach weiter? Reden sie woanders? Warten sie auf politische Entscheidungen? Wie bilden sie sich ihre Meinung? Wie erlangen sie diesen Hauch von Klarheit, den man braucht, um so ein Geschehen einzuschätzen, es überhaupt zu denken, es einzureihen in die Reihe der Anschläge – Charlie Hebdo, zum Beispiel, soweit es Frankreich betrifft (könnte man denken, wenn es nicht auch uns beträfe und – alle anderen).
François Hollande fliegt verstärkt Luftangriffe. Heute schickt er den Flugzeugträger aufs Meer hinaus. Seine Angriffe sind nicht beliebig. Ich frage mich, wie die Terroristen den Zeitpunkt des Anschlags gewählt haben: Deutschland–Frankreich fand nur ein paar Tage vor dem geplanten Deutschland–Holland statt. Irgendein Bezug würde dem Grauen die Beliebigkeit nehmen.
Was geschehen ist, ist nicht beliebig. Das Leben ist nicht beliebig. Und Angst darf nicht beliebig verbreitet werden. Ich geh dann mal reden – oder tanzen oder so.