Die nachfolgende Flüchtlingsgeschichte schildert, wie schnell ein schlichtes Leben mit überschaubaren Aufgaben und Verpflichtungen unaufhaltsam und unverschuldet aus den Fugen geraten kann, und wie ein einfacher, vormals stolzer und selbstbestimmter Mann, getrennt von dem ihm verbliebenen Rest seiner Familie, ratlos und überfordert versucht, mit dieser Katastrophe klar zu kommen. Es gelingt irgendwie, aber als dann seine Frau fernab von ihm zusammenbricht und verzweifelt droht seinen letzten Halt, seine Familie, zu vernichten, trifft er überfordert und kopflos eine Entscheidung, die das Desaster perfekt macht: Er kauft ein Flugticket und fliegt los, ohne auch nur annähernd zu ahnen was ihm daraus erwächst...
Saleh A. wurde am 5. August 1983 in Al Rakka, Al Kamisia (nahe der Stadt Madan) in Syrien geboren.
Er wuchs dort auf, besuchte die Dorfschule bis zur 9. Klasse und lebte auch nach Heirat und der Geburt seiner vier Kinder, mit seiner Familie unter sehr einfachen Verhältnissen im Haus seiner Eltern. Nur unterbrochen durch einen zweieinhalbjährigen Wehrdienst, 2002-2005, bestritt er seinen Lebensunterhalt mit dem Handel von Obst und Gemüse und transportierte Waren für einen lokalen „Supermarkt“.
Nachdem der IS die Region Rakka eingenommen und zur islamistischen Hochburg ausgebaut hatte, wurde er häufig wegen Nichtigkeiten angehalten, drangsaliert, mehrfach misshandelt, gefoltert und ins Gefängnis gesperrt.
Infolge einer Auseinandersetzung mit der IS-Polizei – weil seine Frau auf dem Hof keine Burka trug – wurde er schließlich mit Flugblättern gesucht: Ihm drohte die Todesstrafe.
Auf Anraten seines Vaters und mit Hilfe eines Schleusers, flüchtete er deshalb völlig unvorbereitet am 1. Oktober 2015 nachts in die Türkei.
Mit einem Boot erreichte er später Griechenland und dann weiter auf der Balkanroute, Deutschland.
Am 26. Oktober 2015 wurde er im Auffanglager Erdingen vom Deutschen Roten Kreuz erfasst und am 9. November 2015 ins Camp der LAB Braunschweig überstellt.
Am 18. Dezember 2015 endete seine persönliche Odysee in Uelzen.
In Rakka spitzte sich die Lage derweil zu: Angesichts der heranrückenden syrischen Armee, die durch kurdische und irakische Verbände und Bombardements durch Amerikaner und Franzosen unterstützt wurde, kam es zu vielen willkürlichen Hinrichtungen und Massenmorden durch den IS. Darunter waren Angehörige der Familie und viele Freunde von Saleh. Das Heimatdorf wurde zerstört, seine Mutter und seine Frau mit den vier Kindern im Alter von 1, 4, 5 und 6 Jahren, entkamen Anfang 2016 im letzten Moment. Auch sie flüchteten in die Türkei. Dort wurden sie, unter widrigsten Umständen, in einem Zelt-Camp untergebracht.
Die Entwicklung in Syrien, die Verwüstung der Heimat, die alltäglichen Todesnachrichten, die Flucht seiner nun einzigen Angehörigen – Mutter, Ehefrau, Kinder -, die Sorgen um deren katastrophalen Lebensbedingungen und die eigenen körperlichen und seelischen Folgen von Misshandlungen und Folter, brachten Saleh Alkhader mehrfach an den Rand des Zusammenbruchs. Und trotzdem musste er Integrationskurse besuchen, die deutsche Sprache lernen und sich mit einer Schwemme von Formularen auseinandersetzen, die er – bis heute – nicht richtig lesen kann und deren Inhalte sich ihm nicht erschließen.
Saleh A. ist eine einfache und ehrliche Haut. Er hat sich bemüht und es versucht – er hat teilgenommen. Aber er scheiterte an allem, was über das Sprachniveau A1 hinausgeht. Er hat nie richtig gelernt zu lernen und es war für ihn bis dahin auch nicht wichtig. Wichtig waren ihm Frieden, mit seiner Familie zu leben und zu arbeiten. Etwas anderes kennt er eigentlich auch nicht. Er möchte redlich Geld verdienen und dafür sorgen, dass es seiner Familie gut geht.
Saleh bekommt natürlich Hilfe, die Flüchtlingshilfe in Uelzen kümmert sich verlässlich um ihn und seine Papiere. Sie nimmt ihm alles ab.
Als er beim Jobcenter landet, werden die notwendigen Formulare ausgefüllt, später ein Mietvertrag abgeschlossen und ein Konto eröffnet. Er muss nichts weiter tun – nur vertrauen und unterschreiben was man ihm vorlegt. Saleh ist froh dass er sich um die ihm aufgezwungenen Bürokratie nicht kümmern muss, denn er wird sie – wie die meisten seiner Leidensgenossen – nie verstehen.
Manchmal fühlt er sich fremdbestimmt und verwaltet, aber er wird damit nicht enttäuscht. Mit der Zeit läuft alles automatisch: Leistungen treffen pünktlich auf dem Konto ein, Miete, Nebenkosten und Handyvertrag werden abgebucht. Er braucht nur den Umgang mit dem Geldautomaten zu erlernen, um Geld für sich abzuheben. Das tut er sparsam, um soviel Geld wie möglich zu seiner Familie transferieren zu können.
Die Kontoauszüge verschwinden in einem Plastikbeutel, denn auch sie kann er nicht deuten und verstehen. Er merkt nur wenn das Geld alle ist, dann gibt der Automat nichts mehr her.
2017 erkrankt die Mutter in der Türkei. Ihr Zustand verschlimmert sich von Monat zu Monat – die Lebensumstände tragen ihren Teil dazu bei. Ärztliche Behandlung und Medizin gibt es nur sporadisch. Die Kosten dafür fressen einen Großteil der Mittel auf, die eigentlich für Lebensmittel gedacht sind. Die Familie ist auf Spenden der Hilfsorganisation Roter Halbmond angewiesen.
Mütter sind heilig im Orient. Und Saleh, als einzig überlebender Sohn, ist (nicht nur moralisch) verpflichtet alles menschenmögliche für seine Mutter zu tun. Er soll nun mehr Geld schicken, aber das gelingt selten und eine auskömmliche Arbeit ist in seiner Situation kaum zu finden. Er ist verzweifelt und fühlt sich schuldig.
Im Frühjahr 2018 geht es mit dem Zustand der Mutter rapide bergab. Die Ehefrau ist mit ihren vier Kindern, der kranken, alten Frau und der ausweglosen Situation heillos überfordert. Sie rebelliert und droht, die Kinder und ihre Schwiegermutter zu verlassen. Sie will alleine zurück nach Syrien gehen, wenn Saleh nichts unternimmt.
In dieser Situation denkt er weder an Jobcenter, Integrationskurs oder andere Verpflichtungen. Er weiß nichts darüber, dass und wie er sich im Amt abmelden muss und welche Verpflichtungen genau er in den Formularen unterschrieben hat. Er denkt auch nicht über Geld nach, denn das was kommt, wird ja automatisch verwaltet.
Aus Angst um die Mutter, seine Ehe, seine Frau und seine Kinder reagiert er einfach nur menschlich und panisch: Er leiht sich Geld von Freunden, kauft ein Flugticket und fliegt am 15. Mai 2018 kurzentschlossen nach Griechenland. Von dort geht er über die grüne Grenze in die Türkei und reist weiter ins Lager zu seiner Familie.
Er tut was er kann für seine Mutter, bringt sie zum Arzt, besorgt Medizin und kümmert sich den ganzen Tag um sie. Retten kann er sie nicht mehr, sie verstirbt nach zwei Monaten.
Saleh versucht vor Ort Arbeit zu finden. Aber ohne die notwendigen Papiere bleibt es bei kleineren Gelegenheitsjobs – und die reichen nicht zum Leben. Im Oktober warnen ihn Freunde in Deutschland davor, seinen Aufenthaltstitel nicht zu gefährden. Er müsse zurückkommen, damit die erlaubten sechs Monate im Ausland nicht überschritten werden.
Davon weiß er nichts. Aber er glaubt es, nachdem er es von mehreren Seiten hört.
Saleh weiß nicht was er tun soll: Am liebsten würde er bei seiner Familie bleiben. Aber er kann sich nicht offiziell anmelden, weil er illegal eingereist ist. Ohne Aufenthaltserlaubnis kann er aber kein Geld verdienen und seine Familie nicht unterstützen. Nach langen Gesprächen mit seiner Frau beschließen sie gemeinsam, dass er zurück nach Deutschland geht und sich weiter um Arbeit und den Familiennachzug bemüht.
Die Rückreise gestaltet sich schwierig. Am türkischen Flughafen in Istanbul wird er verhaftet, weil sich in seinem Pass kein Einreisestempel befindet. Saleh sitzt fest, sein Ticket verfällt. Erst nach Zahlung einer hohen Strafe darf er ausreisen. Das Geld dafür, und für ein neues Ticket, leiht er sich umständlich.
Hoch verschuldet, mit einem 5-jährigen Einreiseverbot in die Türkei und 5 Tage nach Ablauf des erlaubten halbjährigen Auslandsaufenthalts trifft er am 22. November 2018 in Berlin ein. Auch hier wird er verhaftet – wegen unerlaubter Einreise.
Am 20. Dezember 2019 muss er seinen Aufenthaltstitel abgeben und hat nun nur noch eine Duldung: Ohne Aussicht auf Familiennachzug, ohne geregelten Leistungsbezug, ohne Integrationskurs, ohne Krankenversicherung und ohne Hoffnung Frau und Kinder in den nächsten fünf Jahren wiederzusehen.
Saleh hat zu diesem Zeitpunkt schon seit vier Wochen keinen Pfennig in der Hand. Nur die Hilfe seiner Freund hält ihn am Leben. Der ehemalige Vermieter hat ihm seine alte Wohnung zur Verfügung gestellt. Bedingung: Er soll alles Offenstehende und Auflaufende kurzfristig bezahlen.
Das Sozialamt springt schließlich ein. Er erhält Sozialhilfe und die laufenden Wohnkosten werden bezahlt. Wenn er krank wird kann er sich einen Behandlungsschein ausstellen lassen und die Ausländerbehörde sagt eine befristete Arbeitsgenehmigung zu, sollte er Arbeit finden.
Durch einen Zufall findet sich Arbeit. Saleh ist überglücklich. Täglich läuft er aus der Innenstadt bis zu Mc Donalds und zurück. Dort arbeitet er zuverlässig und pünktlich und man ist sehr zufrieden mit ihm. Die Arbeit gibt ihm Halt, er fasst neue Hoffnung.
Dann flatterte ein Brief der Staatsanwaltschaft ins Haus: Ein Ermittlungsverfahren wegen Sozialleistungsbetrug. Saleh sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, „sich durch sein Verhalten einen erheblichen rechtswidrigen Vermögensvorteil verschafft zu haben“. Das Jobcenter fordert 2.437,51 € an gezahlten Leistungen zurück. Geld, das noch auf seinem Konto eingegangen ist, bis seine Abwesenheit bemerkt wurde, während er in der Türkei war. Er hat es nie in die Hand bekommen, denn es wurde durch Miet- und andere Abbuchungen ohne sein Zutun verbraucht.
Er weiß nicht ob und wieviel Geld eingegangen und wo es geblieben ist, denn auch das Bankkonto wurde irgendwann geschlossen Der Vermieter hat die Wohnung wegen der langen Abwesenheit Salehs kurz vor seiner Rückkehr geöffnet und besenrein gereinigt. Die Plastiktüten mit der eingegangenen Post und der Unterlagensammlung wurden entsorgt.
Eine weitere Strafsache (illegale Einreise in die Bundesrepublik) wurde bereits durch einen Strafbefehl und die Verhängung einer Geldstrafe von 150,- € zzgl. 73,50 € Kosten abgehandelt. Das stottert er bereits in monatlichen Teilbeträgen von 30,- € ab.
Um das Desaster komplett zu machen, wurde nun auch noch sein Bankkonto vom Hauptzollamt gepfändet: Für ein Mietkautionsdarlehn des Jobcenters, für das er noch 480,- € zu berappen hat. Auf diesem Konto geht der Lohn für seinen Job bei Mc Donalds ein. Das Geld, das er für das Leben seiner Familie und sich dringend braucht. Und es ist noch unklar, ob die rechtlichen Voraussetzungen für die Umwandlung des Kontos in ein Pfändungsschutzkonto für einen „Geduldeten“ gegeben sind.
Saleh A. hat bisher versucht, in den Trümmern seines Lebens zu überleben. Bis heute ist er klargekommen und hat irgendwie alles aus- und zusammengehalten. Jetzt machen sie sich selbständig und fliegen ihm um die Ohren…
Bisher sind vier Jahre vergangen, vier Jahre für vier Kinder ohne Vater, vier Jahre für einen Vater fernab von seinen Kindern.
Fünf Jahre sollen folgen.
Fünf Jahre geduldet?
Fünf Jahre ohne zu wissen was kommt?
Und was danach ist, ist ungewiss?
Wie soll ein Mensch das aushalten?
(Scroll nochmal hoch und schau Dir das Titelfoto an. Stellt Dir vor, es sind Deine Kinder. Fünf Jahre… Wie würdest Du das aushalten???)
Andreas Paschko
Titelfoto: Von diesen (seinen) Kindern, hat Saleh sich fünf Tage zu spät getrennt…